Wir stehen inmitten dutzender verwitterter Grabsteine auf dem alten, mittlerweile geschlossenen Friedhof von Waldeck. Zusammen mit Anja Putzer, eine der örtlichen Kräuterexpertinnen, bin ich auf dem Rundweg durch den Essbaren Wildpflanzenpark unterwegs. Wir stehen vor der Edelstahltafel der Station „Wildrosen“. In den letzten beiden Jahren wurden entlang der niedrigen Friedhofsmauer verschiedene Arten heimischer Wildrosen gepflanzt, darunter Feld-, Hunds- und Kartoffelrosen. Man braucht etwas Fantasie, um sich bereits heute vorstellen zu können, wie die Pflanzung in einigen Jahren wirken wird, denn im Moment sind die Rosenstöcke noch klein. Wer aber das üppige Wachstum und den betörenden Blütenduft von Wildrosen kennt, kann bereits erahnen, dass dieser Ort in wenigen Jahren, zur Zeit der Rosenblüte im Mai, ein ganz besonderer sein wird.

Eine historische Streuobstwiese

Wir verlassen den alten Friedhof und gehen den Schlossberg hinauf. Hoch oben thront die Ruine der Burg Waldeck. Der Weg führt in einen Laubwald, die Umgebung ist schattig und feucht. Links und rechts des Weges stehen, teils versteckt im Unterholz, alte, knorrige Kirsch- und Birnbäume. Sie sind mit silbrig glänzenden Flechten bewachsen, die Atmosphäre mutet verwunschen an. Diese alten Obstbäume bilden, gemeinsam mit der Burgruine, das historische Herzstück des Parks. Sie sind Überbleibsel einer 3,5 Tagewerk großen Streuobstwiese, die vor fast zwei Jahrhunderten an dieser Stelle bewirtschaftet wurde. Die historische Streuobstwiese ist urkundlich erwähnt und preisgekrönt.

Ein paar Meter weiter stehen riesige Fichten mit massiven Stämmen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so urwüchsige Nadelbäume gesehen habe. Die jungen, hellgrünen Fichtenspitzen seien essbar und wirkten anti-septisch, erklärt mir die Kräuterführerin. Langsam gekaut kurierten sie beispielsweise Zahnfleischentzündungen. Ich zupfe ein paar Nadeln vom Baum und probiere. Sie haben eine überraschend zarte Konsistenz und schmecken leicht süßlich.

Im Juni kann man jungen Giersch im Wildpflanzenpark sammeln. | Foto: Birgit Matz

Mediterrane Wildkräuter am Schlossberg

Wir verlassen den Wald. Nur ein paar Meter weiter herrschen plötzlich ganz andere Standortbedingungen: Unterhalb der Burgruine am steilen Südhang wähnt man sich in mediterranen Gefilden. Auf einer Magerwiese wachsen dichte Teppiche sonnenliebender Pflanzen, darunter Wermut, Dost und wilder Thymian. Der sonnige Hang wird in den Sommermonaten von Ziegen und Schafen beweidet, der Untergrund ist karg. Dort herrschen daher ideale Voraussetzungen für das Gedeihen dieser sonst für den Mittelmeerraum typischen Kräuter.

Giftiges Kraut mit berauschender Wirkung

Kurz bevor wir die Burgruine betreten, stehen einige Exemplare des Schwarzen Bilsenkrauts. Eine Pflanze, die in der freien Natur bei uns mittlerweile selten geworden ist. Aber Vorsicht, man sollte dem Kraut nicht zu nahe kommen! In den gängigen Bestimmungsbüchern prangt ein dicker schwarzer Totenkopf neben der Pflanzenbeschreibung. Durch das Bilsenkraut kommt es immer wieder zu schweren Vergiftungsfällen. Früher wurde das Schwarze Bilsenkraut häufig zum Brauen von Bier verwendet, um dessen berauschende Wirkung zu verstärken. Da seine Samen ihre Keimfähigkeit über Jahrhunderte hinweg behalten können, vermutet Anja Putzer, dass bei den Freilegungsarbeiten an der Burgruine in den letzten Jahrzehnten Samen an die Oberfläche gelangten, aus denen der hiesige Bestand des Bilsenkrauts hervorging.

Im Burghof der Ruine bietet sich zur Blütezeit der Pflanzen ein Feuerwerk an Farben. | Foto: Birgit Matz

Überlebenskünstler im Basalt

Wir gehen durch den Torbogen in den Burghof der Ruine. In den Ritzen des Basalts wachsen echte Überlebenskünstler wie Mauerpfeffer, Natternkopf, Königskerze und Storchschnabel. Zur Blütezeit der Pflanzen bietet sich hier ein Feuerwerk an Farben vor dem dunklen Hintergrund des vulkanischen Gesteins. Wir machen noch einen kurzen Abstecher in die Kapellenruine, dann sind wir am Gipfel des Schlossbergs angekommen. Vor uns breitet sich ein beeindruckendes Panorama aus. Rundherum blicken wir kilometerweit über die hügelige Vulkanlandschaft der nördlichen Oberpfalz. In Richtung Norden sieht man in einiger Entfernung die wolkenverhangenen Kuppen von Ochsenkopf und Schneeberg, den beiden höchsten Bergen des Fichtelgebirges.

Ein Eldorado für Eichhörnchen

Auf dem Rückweg nach Waldeck gehen wir ein Stück durch die sogenannte „Nussallee“ des Parks. Links und rechts des Wegs reiht sich ein Haselnussstrauch an den nächsten. Hier haben die Waldecker auch einen kleinen Hain mit rund einem Dutzend Edelkastanien gepflanzt. „Bisher konnten wir noch keine eigenen Maronen ernten, die Kastanienbäume sind noch zu jung, um zu tragen“, erklärt mir die Kräuterführerin. Diese jungen Edelkastanien, die nur einen Steinwurf entfernt von der 200 Jahre alten Streuobstwiese stehen, zeigen das eigentlich Interessante an diesem Park auf. Es ist das Nebeneinander von historisch und modern, von natürlich gewachsen und behutsam geformt. Im Grunde verbindet sich in dem Park auf eine wunderbare Art das Gestern mit dem Heute und Morgen. Es ist der Lauf der Natur, der im Essbaren Wildpflanzenpark auf kleinstem Raum in all seiner Vielfalt von den Waldeckern eingefangen wurde.