Frau Diehl, gerade kommen Sie von der Frankfurter Buchmesse. Ihr Titel „Autokorrektur“ war auf der Shortlist für den deutschen Wirtschaftsbuchpreis. Wie ist es gelaufen?
Die zehn Nominierten durften zwei Minuten lang präsentieren. Während die meisten die Zeit dafür genutzt haben, ausschließlich ihr Buch vorzustellen, habe ich in dieser Zeit dafür meine bereichsübergreifende Arbeit platziert. Der Leser_innen-Preis ging dann – für mich völlig überraschend – mit einer Zustimmung von 30 Prozent an mich. Ich habe vor Freude geschrien, weil ich damit überhaupt nicht gerechnet habe. Vor fünf Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass mein Buch, das mehr sozial als technisch ist und den Menschen in den Fokus stellt, überhaupt auf die Shortlist kommt. Allein das hat mich schon sehr gefreut.
Sie sind in einer Zeit aufgewachsen, in der der Stellenwert des Autos stetig zunahm, bis es schließlich als Selbstverständlichkeit galt. Wann war für Sie der Punkt erreicht, diesen Automatismus nicht mehr hinzunehmen?
Ich wollte in erster Linie immer nur gut und sicher unterwegs sein und hatte auch nie einen Bezug zum
Auto. Ich glaube, es hilft auch, relativ pragmatisch auf so ein Verkehrssystem zu blicken. Denn für manche bedeutet es Legitimation, für andere Limitierung. Ich identifiziere mich mit keinem Verkehrsmittel. Obwohl ich meine beiden Fahrräder sehr dafür liebe, dass sie mir meine Alltagsmobilität ermöglichen. Irgendwann hat sich in mir das Bild dieser vielen Autos verfestigt, die immer nur herumstehen. Ich möchte, dass alle Verkehrsmittel gleichwertig sind im System.
Das Auto ist immer noch der Deutschen liebstes Kind und gilt vielen als Statussymbol. Sind sie schon bereit für eine Mobilitätswende?
Das ist mir ehrlich gesagt mittlerweile komplett egal, ob sie bereit dafür sind, denn wir haben eine Klimakatastrophe. Ich will, dass der Deutschen liebstes Kind einfach nur eine Form von Mobilität ist. Die echten Kinder müssen endlich in den Fokus, vulnerable Gruppen müssen in den Fokus. Menschen mit Behinderung oder wenig Geld müssen in
den Fokus. 13 Millionen Erwachsene haben keinen Führerschein und 13 Millionen Kinder sind zu jung für einen Führerschein. Das sind 26 Millionen Menschen, eine riesige Gruppe, die keine Lobby hat.
In einem anderen Interview habe ich deshalb vor kurzem gesagt, dass die Verkehrswende noch gar nicht begonnen hat. Denn wenn die Zulassungszahlen weiter steigen, und das sind sie 2021 um weitere 400.000 Autos, dann läuft da irgendetwas verkehrt. Die Klimakatastrophe bringt jetzt Druck in den Kessel – ohne sie würden wir das bestehende System immer noch nicht auf den Prüfstand stellen.
Die Verkehrswende hat
noch gar nicht begonnen.
Wie ist Ihre Einstellung zum Auto – nutzen Sie selbst noch eines?
Ich habe Zeit meines Lebens noch nie ein Auto gehabt. Ich hatte lediglich mal einen Dienstwagen, als ich bei einem Logistiker gearbeitet habe und die Dependancen in Industriegebieten lagen, die ich ohne Auto nicht erreichen hätte können. Am Anfang fand ich das sogar noch witzig, weil ich vom Vorgänger einen komplett übermotorisierten blauen Toyota Corolla übernommen hatte. Innerhalb von ein paar Wochen hatte ich den Spaß daran aber komplett verloren.
Anti-Auto-Aktivistin, Nahverkehrs-Lobbyistin oder Auto-Basherin – es gibt viele Begriffe, mit denen Sie tituliert werden. Welche Bezeichnungen würden Sie selbst verwenden und welche lesen sie weniger gerne über sich?
Dass ich mich bei meiner Kritik auf das Auto konzentriere, ist dem System selbst geschuldet. Was soll ich denn auch machen? Ich muss das Auto hinterfragen, denn das Auto macht die Probleme. Es macht Lärm, ist Quelle von 61 Prozent der CO2 Emissionen im Transportsektor, es ist die größte Mikroplastikquelle, es versiegelt, weil jedes Auto in etwa 100 Quadratmeter Fläche für sich beansprucht. Es ist eine Scheindebatte, zu glauben, man könnte die Verkehrswende umsetzen, ohne die Privilegien des Autos zu hinterfragen. Ich sehe mich eher als mobilisierende Person. Und in meiner Vision ist das Auto noch da – aber nicht in der Dominanz wie bisher. Jede_r sollte die Möglichkeit dazu haben, ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können.

Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl wurde in Lingen an der Ems geboren. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften arbeitete sie in der Kommunikations- und Marketingbranche. Seit 15 Jahren setzt sie sich für das Thema Verkehrswende ein. Sie lebt in Hamburg, hat dort die Vertretung der womeninmobility gegründet und sich bis vor Kurzem im Bundesvorstand des Verkehrsclub Deutschland e. V. engagiert.
In ihrem 2022 erschienenen Buch „Autokorrektur“ hinterfragt die 49-Jährige die Allmachtstellung des Autos an sich und ärgert sich darüber, wie viele Menschen noch immer davon abhängig sind. Gleichzeitig hält sie ein Plädoyer für eine inklusive und klimagerechte Verkehrswende, die den Menschen in den Mittelpunkt rückt und nicht das Fahrzeug.
Sie stechen mit Ihren Thesen mitten in das Wespennest der Auto-Lobby. Wie fallen die Reaktionen aus?
Entscheidend ist meistens, ob man mir überhaupt zuhört und ob ich bis zum ersten Komma komme. Ich kann das Thema Mobilität aber nicht loslassen. Ich habe es mit der Zeit einfach immer mehr umarmt, dass mir täglich Kritik entgegenschlägt. Ich habe irgendwann aber auch umarmt, dass ich vielleicht nie ankomme, sondern immer auf dem Weg sein werde. Aber den möchte ich gestalten – zum besseren für alle.
Sie waren bis vor kurzem Bundesvorständin des Verkehrsclubs Deutschland. Mit welchen Fragen haben Sie sich in diesem Gremium beschäftigt?
Ich habe das vier Jahre lang sehr gerne gemacht, es war aber an der Zeit, weiterzuziehen. Ich bin jetzt unter anderem im Fachbeirat Elektromobilität tätig und gespannt, was ich dort bewirken kann. Letztlich geht es immer darum, ein Team zu bilden und Kompetenzen zu bündeln. Ich fand es schon cool, dass so ein Verband auf mich zukommt und mich fragt: „Wollen wir Dinge nicht gemeinsam verändern?“
Ich denke, ohne die Autoindustrie selbst schaffen wir es auch nicht. Aber der Fokus muss weggehen von dieser Autozentrierung, diesem Besitz von Autos. Ich habe Gestaltungswillen, sehe mich aber darin bestätigt, nicht in die Politik gegangen zu sein. Weil ich so, wie ich jetzt agiere, viel freier handeln kann. Ich habe mich mit dem Mobilitätsthema auch deswegen so sehr beschäftigt, weil ich gemerkt habe: Es gibt so viele Lösungen, wir müssen es nur ernst meinen mit der Transformation.
Es ist eine Scheindebatte,
zu glauben, man könnte die
Verkehrswende umsetzen,
ohne die Privilegien des
Autos zu hinterfragen.
Wie sehen diese Lösungen aus Ihrer Sicht konkret aus?
Das Auto muss alle Privilegien verlieren. Dienstwagen- und Dieselsubventionen müssen weg. Abstellflächen verknappt und bepreist werden. Geteilten Verkehren Vorrang in Finanzierung und Fläche gegeben werden. Städte müssen von geparkten Autos befreit, der Raum zwischen den Häusern den Menschen zurückgegeben werden. Die 15-Minuten-Stadt bietet hier viele Chancen, wieder gemischte Quartiere zu schaffen, in denen alles in 15 Minuten auch ohne eigenes Auto zu erreichen ist. Das schafft nicht nur Entschleunigung, sondern auch Räume, die resilienter gegen die Herausforderungen der Klimakatastrophe sind.
Auf dem Land würde ich das Familienauto klein und vollelektrisch fahren lassen. Geladen mit einer eigenen Photovoltaikanlage. Der Zweit- bis Viertwagen kann obsolet werden, wenn beispielsweise auf dem Land die Nahversorgung für die Menschen besser möglich sein wird. Es dürfen keine weiteren Zersiedelungen stattfinden, sondern es muss systemisch gedacht werden. Neubau erst, wenn mobile Infrastruktur schon geschaffen wurde – also Nahverkehr und sichere Radwege. Darüber hinaus könnten ad hoc die Lösungen, die es in der Stadt bereits vermehrt gibt, auf dem Land Mobilitätslücken schließen: E-Scooter und Leihräder bringen uns zur nächsten Haltestelle oder dem nächsten Bahnhof. On-Demand-Rufbussysteme gewährleisten eine Wahlfreiheit in der persönlichen Mobilität.
Der Untertitel Ihres Buchs „Autokorrektur“ lautet „Mobilität für eine lebenswerte Welt“. Wie sähe diese Welt denn aus?
Ich möchte einfach raus aus der Tür gehen können, ohne zu überlegen, worauf ich achten muss, um nicht verletzt zu werden. Einfach raus auf die Straße, die dann keine Auto-Straße ist. Und es gibt vor allem Muskelmobilität. Vielleicht fährt hier und da ein autonomes Kleinstfahrzeug vorbei – für Menschen, die bestimmte Bedürfnisse an Mobilität haben. Dann höre ich Kinderlachen und sehe, wie Leute, die auf Bänken sitzen, sich unterhalten. Es ist total grün und die Menschen machen gemeinsam Urban Gardening.
Frau Diehl, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Weitere Inhalte zum Thema Mobilität:
Seit zwei Monaten ist die Mobilitätsexpertin auch in einem Format des hvv (Hamburger Verkehrsverbund) mit dem Namen Your Turn als Moderatorin tätig, und beantwortet im Gespräch mit bekannten Personen die Frage: „Was bewegt die Menschen in Hamburg und Umgebung und wie bewegen sie sich?“.
In den ersten beiden Folgen des Formats unterhält sie sich mit der Influencerin Imke Salander und Johannes Strate von Revolverheld. Hier geht es zu den Folgen: https://www.hvv.de/de/yourturn
Allein die Aussage – „ist mir egal“ – empfinde ich widerwärtig! Wie wäre es denn, die Grünen fangen einmal an mit realen Gedanken? Was verbraucht ein Panzer? Wieviel Opfer haben die Grünen „eingepreist“ beim erklärten Krieg gegen Russland? Mit Beschämen muss ich gestehen, auch ich habe schon einmal die Grünen gewählt. Diesen Fehler werde ich mir nicht verzeihen. Als Mutter von drei Kindern möchte ich jedoch deutlich sagen, meine Söhne/Tochter bekommt ihr nicht! Ja, ich weiche ab vom Thema. Aber die Haltung – „mir doch egal“ – beobachte ich bei den Grünen eben nicht nur im Bezug zum Auto.
was haben die grünen denn damit zu tun? frau diehl betont ja sogar dass sie nicht in die politik gegangen ist.
abgesehen davon macht die haltung im kontext der Klimakatastrope durchaus sinn. die frage stellt sich einfach nicht mehr ob wir bereit für irgendetwas sind. der klimawandel ist längst da und die folgen werden schlimmer je länger wir weiter so machen. je schneller wir handeln und uns anpassen desto besser.
Welche „Klimakatastrophe“? Wenn Sie nach der Bedeutung des Wortes Katastrophe suchen, empfehle ich Ihnen ein One-way Ticket in die Tuerkei zu loesen, dann koennen Sie am eigenen Leib erfahren, wie eine Katastrophe aussieht
Interessant wem die Umweltbank ein Podium bietet. Noch interessanter, dass so falsche Tatsachen in der Öffentlichkeit verbreitet werden können, ohne eine Korrektur seitens des Umweltbank-Blogs. Mitnichten nimmt der Individualverkehr die skizzierte Position beim so genannten Klimawandel ein. Da wäre zunächst v.s.a die Betonproduktion zu nennen, das US Militär, Tankschifffahrt (etc.etc.) als die großen CO2 Emittenten.
Verkürzt gesagt: Die Einseitigkeit des Diskurses wird noch weiter verengt. Im Laufe des Tages kündige ich meine Bankverbindung zur „Umwelt“-Bank!
•Dienstwagen- und Dieselsubventionen müssen weg
•Abstellflächen verknappt und bepreist werden
•auf dem Land das Familienauto klein und vollelektrisch fahren lassen, geladen mit einer eigenen Photovoltaikanlage
•Zweit- bis Viertwagen kann obsolet werden, wenn auf dem Land die
Nahversorgung für die Menschen besser möglich wird
•Neubau erst, wenn mobile Infrastruktur schon geschaffen wurde
Liebe Frau Diehl,
Das klingt verdammt „neogrünromantisch“. Der Haken bei diesen „Zielen“ ist, damit wird aus meiner Sicht der Motor der Gesellschaft geschwächt werden – der Mittelstand. Der, der z.B. den Menschen die Häuser auf dem Land baut, sie dort mit Lebensmitteln versorgt, die Menschen von A nach B fährt usw. usw.
Vielleicht sollten Sie Ihre Ideen etwas an die Realität anpassen.
Völliger Unsinn, es werden so viele Lebensmittel auf der Straße transportiert, viele Menschen leben nicht in einer Stadt wo die Verkehrsanbindungen gut sind. Dutschland ist so klein, die Bestimmungen und Vorschriften so vielfältig. In anderen Ländern wird das Klima ignoriert. Dort fahren Autos ohne Kat, alte Autos die wir dorthin verkaufen oder verschrotten. Sollten die Herrschaften mal dort aufklären aber dort würde man sie mundtot machen oder des Landes verweisen, auslachen. Es ist wichtig etwas zu tun aber Deutschland ist nicht der Weltretter und auch wir möchten jetzt ein angenehmes Leben haben und nicht auf alles verzichten nur das unsere Nachkommen ein schönes gutes Leben haben. Wir leben jetzt.!
Vielen Dank für das Interview mit Frau Diehl! Sie kritisiert nicht nur, sondern schlägt auch Lösungen vor, wie die Mobilität anders organisiert werden könnte. Dabei kommt auch die wesentliche Uralt-Botschaft der Wissenschaft rüber: Mobilität ist nicht gleich Verkehr, vielmehr ist das Thema Erreichbarkeit ein wesentlicher Faktor und eine große Aufgabe für die Raumordnungsplanung.
Wenig hilfreich ist aber der Habitus von Frau Diehl, den sie auf dem gewählten Foto und mit der Aussage zum Ausdruck bringt, die dem Beitrag als Überschrift dient: „Ich blicke besserwisserisch und mit Verachtung von meinem Fahrrad auf die ganzen Autobesitzer herab und gehe auch nicht in die Politik, weil man da ja Kompromisse machen muss.“ Wenn es nur darum geht, bei der Umweltdebatte (die auch eine wirtschaftliche und soziale ist) auf der richtigen Seite gestanden zu haben, dann ist der Kampf um einen lebenswerten Planeten verloren. Wohl oder übel muss man die Menschen mitnehmen und dafür auch schmerzliche Kompromisse eingehen. Das zeigt die aktuelle Diskussion über Verbote bestimmter Technologien bei Heizungen und Autos. Paternalistische Politik und maximale Rechthaberei ohne ein Mindestmaß an Demut bringen einen Großteil der Menschen gegen alle Umweltregeln auf. Klare Emissionsbegrenzungen (aber bitte bei CO2 in globaler Betrachtung) und Technologieoffenheit wären besser.
Noch ein Wort zu anderen Kommentaren hier: Formulierungen wie „Krieg gegen Russland“ sind zum Glück von der Meinungsfreiheit gedeckt, zeugen aber von Weltfremdheit oder ideologischer Verblendung. Und – richtig, Cherusker – die Verengung der Klimadebatte auf das Mobilitätsthema ist leider weit verbreitet. Dennoch darf sich eine Autorin natürlich auf ein Thema fokussieren. Und die Aussage von Frau Rimmele („Wir leben jetzt“) ist zwar sehr ehrlich, in diesem Zusammenhang aber eine ethische Bankrotterklärung und ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung Kinder und Enkel.