„Ich bin dann mal weg!“ Hape Kerkeling hat das Pilgern in Deutschland wieder salonfähig gemacht. Sich einmal auf den Jakobsweg machen, wer hat nicht schon davon geträumt? Ich habe etwas noch Besseres gefunden: die Grande Traversata delle Alpi, die große Westalpendurchquerung entlang des italienisch-französischen Grenzkamms. Sie ist viel weniger überlaufen und leichter zu erreichen. Machen wir uns also auf den Weg:

Kalte Dusche im Pilgerzimmer

Zweihundert Höhenmeter unter uns leuchtet das „Santuario di San Magno“ in der Mittagssonne. Noch einen schmalen Wiesenpfad den Hang hinunter. Dann direkt hinein ins ‚ristoro del pellegrino‘ zur Rezeption. Wir sind fünf Bergwanderer und für heute Abend angemeldet im ‚posta tappa‘, der einfachen Etappenunterkunft der Sankt-Magnus-Wallfahrtskirche im hintersten Valgrana, Provinz Cuneo, auf 1.761 m.

„La donna viene subito“ ruft mir der etwa 60-jährige Mann hinter der Rezeption zu. Ich nenne ihn mal Bruno, er serviert mir einen Espresso, um die Wartezeit zu überbrücken. Fünf Minuten später kommt eine kleine Italienerin und führt uns in die einfachen, aber sauberen Zimmer mit Stockbetten. Wir freuen uns auf die Dusche gleich nebenan. Sie bleibt leider kalt, aber das macht uns nichts aus. Wir haben ja kein Fünfsternehotel gebucht, sondern Pilgerzimmer mit Halbpension für 35 Euro pro Person.

Um 16.00 Uhr ist „santa messa“, die will ich mitfeiern. Als die Glocke zum Gottesdienstbeginn klingelt, ziehen in den Altarraum ein: Bruno (als Priester) und ein etwa 12-jähriger Junge als Messdiener. Derselbe Bruno, der mir vor einer Stunde noch einen Caffè an der Bar serviert hatte. Ich bin beeindruckt.

So sieht eine typische Stärkung für Wanderer auf der GTA aus. | Foto: Jürgen Koppmann

Priester und Barmann in Personalunion

Um 19.30 Uhr geht es zum Abendessen in die einfach eingerichtete Pilgergaststube im Souterrain des Kirchenvorplatzes. Zu Essen gibt es Gnocchi al Castelmagno. Unsere Unterkunft liegt in der Gemeinde Castelmagno, nach der einer der berühmtesten Käse der piemontesischen Alpen benannt ist. Er wird aus Kuhmilch mit Beigabe von etwas Schafs- oder Ziegenmilch hergestellt. Und in der Verbindung mit Gnocchi läuft der Käse zur Höchstform auf.

Wer serviert uns das Essen? Der Priester und Barmann Bruno, sein Ministrant und die Donna, die uns das Zimmer gezeigt hatte. „Jetzt brauch‘ ich einen Verdauungsschnaps!“ gibt mein Freund Uwe die weitere Richtung des Abends an. Wir gehen an die Bar im Nebenraum. Wer steht wieder hinterm Tresen? Klar, Bruno. Er berät uns in Sachen Grappa und schenkt uns schließlich einen doppelten ein. Wir kommen ins Gespräch: Bruno ist im Hauptberuf Organist im Dom der Provinzhauptstadt Cuneo. Im Juli und August ist er auf Sommerfrische in den Bergen und kümmert sich um die Wallfahrer.

Kurzer Steckbrief der Grande Traversata delle Alpi (GTA)

Die GTA führt in 60 Etappen den gesamten nordwestitalienischen Alpenbogen entlang, vom schweizerischen Wallis bis ans Mittelmeer.

Man muss für die GTA kein Bergsteiger sein, aber etwas Kondition, Bergschuhe, wetterfeste Kleidung und ein Trekkingrucksack sind notwendig. Ebenso Trittsicherheit, auch wenn es keine Kletterstellen oder Gletscherüberquerungen gibt. Oft sind Höhendifferenzen von 1000 Metern und mehr zu überwinden. Der Weg verläuft auf alten Bergbauern- oder Saumwegen sowie auf historischen Militärstraßen. Man übernachtet in einfachen Etappenunterkünften (italienisch: posto tappa), oft in Dorfgasthäusern, manchmal auch in einem alten Schulhaus oder einer Berghütte. In jeder Unterkunft gibt es ein Abendessen mit mindestens drei Gängen. Ein paar Brocken Italienisch sollte man beherrschen, denn Englisch oder gar Deutsch spricht hier kaum jemand.

Am nächsten Morgen geht es weiter Richtung Süden. Wir erleben wieder eine wunderbare Natur: Trollblumen und Türkenbund säumen unseren Weg. Schafe und Kühe weiden die Berghänge. Am späten Nachmittag erreichen wir Sambuco im Sturatal. Das dortige ‚Albergo della Pace‘ wird von den Wanderern, die uns begegnen, sehr gelobt. Doch wir können es nicht mehr testen, denn es ist unser letzter Wandertag und wir müssen mit dem Bus zurück nach Cuneo.

Dort in der sehenswerten Provinzhauptstadt erwartet uns noch ein absolutes Highlight, die „Illuminata“. Die Bürger tragen in der Abenddämmerung eine Marienstatue durch die Stadt. Dabei wird in der Hauptstraße eine Art Weihnachtsbeleuchtung angezündet, und zwar im Gleichschritt mit der darunter durchziehenden Madonna del Carmelo. Tausende von Menschen begleiten die Prozession, es gibt Reiter, Kapuzenmänner und Kreuzträger. Ein riesiges Spektakel! Die Stimme des Vorbeters kommt mir irgendwie bekannt vor. Als die in der ganzen Stadt über Lautsprecher übertragene glasklare Stimme dann noch ein „Ave Maria“ schmettert und sein Konterfei auf einer Riesenleinwand zu sehen ist, fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Es ist wieder ‚unser‘ Bruno!

Über den Wolken … | Foto: Jürgen Koppmann

Salsiccia statt Speckknödel

Für uns ist die Wanderung auf der GTA ein Mehrjahresprojekt. Wir sind im Juli 2013 mit dem Zug nach Saas Fee in der Schweiz gefahren und seitdem jedes Jahr ein Stück nach Süden weitermarschiert. Im Sommer 2018 haben wir in Ventimiglia das Mittelmeer erreicht. Unterwegs begeisterten uns traumhafte Bergpfade, überwältigende Aussichten auf die 4.000er der Monte-Rosa-Gruppe, wunderbare Tiefblicke in die Poebene und eine Besteigung des 3.538 Meter hohen Rocciamelone. Letzterer gilt als der am leichtesten zu besteigende Dreieinhalbtausender der Alpen und bietet eine Aussicht über weite Teile der französischen Alpen und den gesamten lombardisch-piemontesischen Alpenbogen.

Wir besichtigten Kirchen, Klöster, historische Militäranlagen, die ersten Tunnel der Welt und viele einsame Bergdörfer. Auf dem gesamten Weg begegneten wir immer wieder verfallenen Siedlungen. Nette Menschen und italienische Lebensart versüßten den langen Marsch. Bei einer Bergtour in Österreich oder Südtirol bleibt man immer im deutschsprachigen Kulturraum. Auf der GTA ist man in Italien und isst Polenta und Salsiccia statt Kaiserschmarrn und Speckknödel, trinkt Cappucino und Vino rosso statt Kaffee und Bier. Mich jedenfalls lässt die GTA nicht mehr los. Deswegen heißt es im Juli bei meinen Freunden und mir wieder: „Auf ins Piemont!“

Der Brunnen im Klosterhof bietet eine willkommene Erfrischung. | Foto: Arne Paulsen