Eine Handvoll Kinderwagen reiht sich sorgfältig im Erdgeschoss aneinander. Auf dem Weg durch die Stockwerke fallen kunterbunte Kinderschuhe neben den Sandalen von Erwachsenen vor den Wohnungstüren ins Auge. Im Gemeinschaftsraum klappern Teller und Besteck, es herrscht fröhliches Stimmengewirr aus verschiedenen Sprachen. Im geschützten Innenhof spielen Jungen und Mädchen aus sechs Nationen lachend und lärmend zusammen. Sie schaukeln auf dem großzügig gestalteten Spielplatz und toben über das neu gebaute Klettergerüst. Das muntere Treiben können die Bewohner von ihren teilweise im fröhlichen grün gehaltenen Balkonen gut beobachten. Der Wohnkomplex „Neue Nachbarn“ am so genannten Hechinger Eck in Tübingen ist für Familien aller Gesellschaftsschichten attraktiv – und vergleichsweise erschwinglich.

Wohnungsnot gab den Anstoß für die Initiative „Neue Nachbarn“ in Tübingen

Seinen Ursprung hatte die Initiative „Neue Nachbarn – bezahlbarer Wohnraum für Geflüchtete und Alteingesessene“ im Frühjahr 2016 bei einem privaten Geburtstagsbrunch. 20 Gäste diskutierten damals über die angespannte Wohnsituation in der Universitäts-Stadt am Neckar. Mit dabei war der Jurist und Steuerberater Gunnar Laufer-Stark. Im Laufe des Gesprächs kam die Gruppe zum Ergebnis, dass sich Bürger mit normalem Einkommen die explodierenden Mieten kaum noch leisten können. Genau wie im Rest der Republik ist in der 88.000 Einwohner großen Stadt urbanes Wohnen beinahe schon unbezahlbarer Luxus.

Gunnar Laufer-Stark entwickelte das Wohnprojekt „Neue Nachbarn“ in Tübingen. | Foto: Christoph Schmidt

Laufer-Stark gab aus Gründen wie diesen vor fast zehn Jahren seine Kanzlei auf, um mit einer eigenen Bürger-Aktiengesellschaft „nestbau“ gemeinwohlorientierte Wohnprojekte zu entwickeln. Er weiß: „Insbesondere Geflüchtete, die anders aussehen, eine andere Kultur pflegen und eine andere Sprache sprechen, bleiben bei der Wohnungssuche oft auf der Strecke.“ Dabei hat jeder Asylsuchende, dessen Verfahren nach zwei Jahren immer noch nicht abgeschlossen ist, Anspruch auf eine würdige so genannte Folgeunterbringung. Das Gleiche gilt für Menschen, die in Deutschland geduldet werden oder deren Asylgründe anerkannt wurden.

„Es geht um das gute Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben“

Seine Erfahrungen ließ Laufer-Stark auch in das Wohnprojekt „Neue Nachbarn“ in Tübingen einfließen: „Uns war wichtig, dass Integration gelingt und sich kein geschlossenes Getto entwickelt“, erklärt Laufer-Stark. Außerdem verpflichtete er sich für eine Mietpreisbindung über 60 Jahre – viel länger als von der Stadt Tübingen in dem Ausschreibungsverfahren für das Grundstück am Hechinger Eck gefordert. „Wir haben einen Generationenvertrag geschlossen“, sagt Laufer-Stark stolz. Nachdem die nestbau AG den Zuschlag erhielt, gründeten sie eine Kommanditgesellschaft, die ein Zeichen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit setzen und eine Marke gegen Immobilienspekulation etablieren wollte.

Heute hat die Kommanditgesellschaft „Neue Nachbarn“ 106 stimmberechtigte Teilhaber. Das Interesse an dem ambitionierten Projekt war von Anfang an groß: Zu der Gründungsversammlung im Juli 2016 kamen mehr als 60 Tübinger, die Anteile kaufen wollten. „Wir mussten wegen des Andrangs vom Nebenraum einer Gaststätte ins evangelische Gemeindehaus am Marktplatz umziehen“, erinnert sich Laufer-Stark. Alle eint, dass sie sich mit der Vision der „Neuen Nachbarn“ identifizieren. Zwischen einem und maximal 50 Anteile wurden ausgegeben. „Wir haben eine Obergrenze gesetzt, damit Einzelne die Gesellschaft ‚Neue Nachbarn’ nicht dominieren“, erklärt der Anwalt. Bei einer Quadratmetermiete von rund 8,50 Euro ist die Geldeinlage der Investoren mit etwa zwei Prozent verzinst, errechnete Laufer-Stark. „Aber das ist im Grunde nur Nebensache. Es geht um das gute Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben.“

Multikulti und Miteinander – wenn eine Vision Wirklichkeit wird

Nach einjähriger Bauzeit wurde das Haus im November 2018 bezogen. Zwischen 70 und 140 Quadratmeter sind die insgesamt 12 Wohnungen groß. Familien mit zwei bis sechs Kindern leben hier neben- und miteinander. Außerdem haben sich zwei bunt zusammengewürfelte Wohngemeinschaften zusammengefunden. Auch der Multikulti-Plan ist aufgegangen. Die „Neuen Nachbarn“ stammen aus Afghanistan, Gambia, Syrien, dem Irak, der Türkei und Deutschland.

In einem Teil vom Erdgeschoss ist ein Unternehmen eingezogen, das eingerichtete Büros zum Beispiel an Start-Up-Unternehmen oder Studierende auf Zeit vermietet. Der Hausmeister und Sozialarbeitende teilen sich ebenfalls im Erdgeschoss ein Zimmer, um im engen Kontakt zu den Bewohnern zu bleiben. Austausch, Gemeinschaft und Flexibilität sind in der DNA der „Neuen Nachbarn“ in Tübingen fest verankert.

Da überrascht es nicht, dass die Bewohner im großen Gemeinschaftsraum mit langer und voll ausgestatteter Küchenzeile im Souterrain regelmäßig zusammen kochen. Hier wird gefeiert, zusammen Musik gemacht und gesungen. Ehrenamtliche geben Sprachkurse und bieten Kinderyoga an. Die Stadt organisiert hier außerdem spezielle Mütterrunden, bei denen die Kinder betreut werden. „Ziel ist aber Integration in die Normalität statt falsch verstandenes betreutes Wohnen“, betont Laufer-Stark. Nur bei der Mülltrennung hakt es noch und auch die berühmt-berüchtigte schwäbische Kehrwoch’ läuft noch nicht ganz rund. Dabei stehen die Putzeimer, Putzmittel, Schrubber und Besen abwechselnd vor den Wohnungstüren bereit – als Gedächtnisstütze für die Nachbarn, die als nächstes dran sind. „Aber da kommen wir irgendwann auch noch hin“, sagt Laufer-Stark und lacht.

Die taditionelle schwäbische Kehrwoch‘ wird im Tübinger Wohnprojekt „Neue Nachbarn“ gelebt. | Foto: Christoph Schmidt

Nachhaltiger Wohnungsbau

Die UmweltBank ist Ihr Partner für die Finanzierung ökologischer Bauvorvorhaben.

Weitere Information zu der Tübinger Bürger-Aktiengesellschaft „nestbau“ finden Sie hier.