Lieber Martin, kannst du unseren Leser_innen kurz beschreiben, wie es bei dir auf der Alten Ziegelei aussieht?

Wir haben hier ein Grundstück von 17.000 Quadratmeter mitten im Landschaftsschutzgebiet mit vielen Beeten und einer großen Gartenanlage. Wir bauen Kohl an, haben Himbeersträucher, halten Ziegen, Schweine, Hunde und Katzen. Ursprünglich war hier eine Ziegelei, die in weiten Teilen noch erhalten ist: Das Maschinenhaus mit der Dampfmaschine ist noch da, der Ringofen, die Lagerhalle … Das ist alles denkmalgeschützt. Wir haben ein Sondernutzungsrecht erhalten, um hier alte Gebäude zu revitalisieren, und betreiben einen Baumarkt für historische Materialien. Aber ich sage lieber: Wir betreiben einen Markt gegen das Verschwinden der Dinge.

Das klingt ein wenig mystisch. Was macht ihr denn genau, um das Verschwinden aufzuhalten?

Wir erhalten und revitalisieren alte Gebäude. Da, wo der Rückbau von historischen Materialien möglich ist, bergen wir Baustoffe und planen damit neue Lebensräume für Mensch und Tier. Wir haben hier Ziegelsteine, Bretter, Fenster, Türen, Holznägel, alles, was man sich vorstellen kann. Aus gebrauchten Materialien lässt sich so vieles machen: Wir bauen ganze Wohnhäuser neu auf. Momentan sind Gartenlauben, Backhäuser und Home Offices sehr gefragt. Wir haben ein Sägewerk, schneiden zu und bauen beispielsweise Treppen aus alten Materialien. Und natürlich alle möglichen Möbelstücke. Wir bieten vor Ort auch Workshops an. Dafür haben wir Tiny Häuser auf dem Grundstück gebaut. Darin können unsere Workshop-Teilnehmer übernachten. Wer mag, kann sich auch für einen Kurzurlaub einmieten. Die alte Ziegelei ist ein sehr schöner und erholsamer Ort. Wir müssen sogar oft Menschen wegschicken, weil die vielen Besucher_innen unsere Arbeit zu sehr aufhalten. Wir arbeiten hier sehr kreativ und im Einklang mit der Natur. Dafür brauchen wir Ruhe und Zeit.

Alle klagen über Baustoffmangel, bei dir scheint das kein Problem zu sein. Wo kommen die Baustoffe her?

Meistens melden sich Hausbesitzer_innen, die ein ganzes Haus oder Teile davon rückbauen möchten. Manchmal stehen die Häuser noch und wir suchen dann Interessierte, für die wir das Gebäude an einen anderen Ort versetzen und entsprechend ihrer Vorstellung umgestalten. Allerdings unterschätzen viele Menschen den Aufwand, den der Rückbau historischer Baustoffe verursacht. Bei 50er-Jahre Bauten zum Beispiel sind oft sehr schöne Baustoffe enthalten. Aber diese Gebäude sind extrem zementiert und verklebt, da bekommt man kaum eine Fliese heil heraus.
Darum sind wir sehr transparent, was die Kosten angeht. Wenn wir zum Beispiel eine Treppe ausbauen, braucht man dafür bis zu vier Personen. Bis die Treppe bei uns auf dem Gelände ist, habe ich bereits 500 bis 600 Euro investiert. Da muss ich vorher abwägen, ob ich die Treppe entsprechend verkauft bekomme.
Bei Einzelstücken wie Türen oder Fenstern ist es oft einfacher, wenn die Besitzer_innen den Ausbau selbst vornehmen und mir das Stück vorbeibringen. Denn der Ausbau und die fachgerechte Entsorgung für ein Fenster beispielsweise kostet eigentlich 70 Euro. Wenn mir jemand etwas vorbeibringt, zahle ich natürlich eine Aufwandsentschädigung. Nach 33 Jahren Berufserfahrung kann ich meist schon an einem Foto sehen, ob ein Stück für uns interessant ist.

Martin Blöcher zeigt, wie Baustoff-Recycling geht. | Foto: Martin Blöcher

Haben deine Kunden auch manchmal schräge Ideen? Was war das Ungewöhnlichste, was ihr gebaut habt?

Die schrägsten Ideen hab‘ ich eigentlich selber. Ich liebe Menschen, die selbst Hand anlegen und sich auf das Material einlassen. Denn das Material sagt uns, was es werden will. Wir hatten mal einen großen Bauern, der war eigentlich Punk und hat viel Geld mit Windkraft gemacht. Der hat sich einen Altenteil auf eine Warft gebaut. Zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern hat er sich alles Stück für Stück bei uns zusammengesucht. Was mir sehr gut gefallen hat, war, wie diese Familie ihren Betrieb geführt hat: Die Kühe, die keine Milch mehr gaben, gingen nicht zum Schlachter. Sie bekamen eine Art Lebensrente und wohnten in einem eigenen Park.
Ein anderer Kunde hatte ein Sonderrecht erhalten, um eine Hofstelle für schottische Hochlandrinder zu bauen. Dafür haben wir tolle Sachen gemacht: Ein Rundlingshaus aus Strohlehmballen, eine Werkstatt aus Findlingen. Der Kunde ist Taucher und hat sich rostige Bleche aus alten Schiffen herausgeschnitten und diese in seinem Badezimmer verbaut. So etwas begeistert mich, wenn Menschen selbst Ideen entwickeln und mit anpacken. Leider gibt es immer weniger Verrückte. Die vielen Regeln machen es heute auch immer schwieriger, fantasievoll zu bauen.

Was haben historische Baustoffe neuen Materialien denn voraus? Was fasziniert dich so daran?

Altes Material ist einfach eine Riesenchance, kreativ zu sein und seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Das Material hat Charakter und eine Geschichte, das spürt man. Entweder man fühlt sich wohl mit einem bestimmten Material oder nicht. Es muss auch nicht immer rustikal sein. Es geht darum, mit den Dingen zu leben und sie sein zu lassen. Die Menschen haben so konkrete Vorstellungen und vorgefertigte Bilder im Kopf aus Pinterest und Instagram. Das ist schade. Altes Material lebt, darauf muss man sich einlassen. Darum sag ich meinen Besucherinnen und Besuchern direkt am Eingang, dass sie ihr Handy besser mal wegstecken. Ich guck mir das eh nicht an.

Altes Material ist einfach eine Riesenchance,
kreativ zu sein und seiner Fantasie freien Lauf zu lassen.
Das Material hat Charakter und eine Geschichte, das spürt man.

Martin Blöcher

Alte Ziegelei

Wie ist die Idee zum Baustoffrecycling überhaupt entstanden?

Eigentlich aus Not und Überzeugung. Ich habe ab 1981 in einer Landkommune gelebt. Dort hatten wir eine Käserei, Gemüseanbau, freilaufende Schweine, Waldwirtschaft und eine Tischlerei. Was viele heute als Trend wahrnehmen, nämlich biologisch anzubauen und zu produzieren, das haben wir damals schon längst gemacht. Aber dann kam Tschernobyl … Von einem Tag auf den anderen wollte niemand mehr unser frisches Gemüse und unsere anderen Erzeugnisse kaufen. Nur eine Handvoll Kunden hielt uns die Stange. Aber das reichte nicht, also mussten wir die Kommune aufgeben.
Ich habe angefangen, im Nebenerwerb Renovierungen zu machen. Dafür habe ich inseriert und nach alten Häusern gesucht, um sie abzureißen und Baumaterialien zu gewinnen. Damit habe ich erst Freunden geholfen, ihre Häuser zu bauen. Aber das hat ganz schnell eine eigene Dynamik bekommen. 1989 hatten wir bereits das erste Haus in Lehmbauweise fertig gebaut.

Was bedeutet für dich Nachhaltigkeit?

Am besten ist, man tut gar nichts. Man bleibt lange im Bett liegen und liest ein Buch. Das ist nachhaltig, sehr sogar. Alles, was mit Wachstum zu tun hat, ist nicht nachhaltig. Wirtschaftswachstum ist mir ein Gräuel. Wir müssen lernen, die Dinge anders zu nutzen und anders zu sehen. Es ist nicht nachhaltig, wenn man mit dem Elektroauto Brötchen holt. Wenn ich sowas höre, rege ich mich auf. Nachhaltigkeit bedeutet dem System – der Natur, dem Ökosystem – weniger zu entnehmen, als man ihm gibt.

 Die alte Ziegelei von Martin Blöcher ist nur samstags und am Tag der offenen Tür frei zugänglich. Weitere Besuche nur nach vorheriger Terminabsprache.

Martin Blöcher, 62, lebte nach einer Ausbildung in der Landwirtschaft in einer Landkommune in Lemgo. Als das Landwirtschaftsprojekt durch die Atomkatastrophe in Tschernobyl nicht mehr existenzfähig war, baute er ein Bauunternehmen für historische Baustoffe auf. Mit seinem 14-köpfigen Team recycelt er alte Baumaterialien und schafft daraus etwas Neues. Dabei begleitet er seine Kundinnen und Kunden handwerklich wie konzeptionell bis hin zum kompletten Hausbau. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet unter anderem mit dem Bundes-Recyclingpreis.