Auf der Baustelle herrscht Hochbetrieb. Der Strom an Transportern verschiedener Handwerksbetriebe reißt nicht ab. In jedem Stockwerk wird eifrig gewerkelt. Bohrer und Hämmer durchbrechen das Rauschen der Autos auf der nahegelegenen mehrspurigen Straße und das Rattern der vorbeifahrenden Züge auf der anderen Seite. Noch benötigen Besucher Fantasie, um sich vorzustellen, was in nicht allzu ferner Zukunft eines der Vorzeige-Bauwerke Deutschlands sein wird.
Am Eingang des neuen Stadtquartiers auf dem alten Tübinger Güterbahnhof entsteht derzeit, die sogenannte „Westspitze“. Wie ein unübersehbarer Leuchtturm steht das Hochhaus aus Holz direkt an der „Blauen Brücke“. Sieben Etagen ist der Gewerbe-Neubau hoch und zählt damit zu den höchsten Häusern Deutschlands in Holzhybridbauweise: Die Hälfte des verbauten Materials besteht aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz, alleine in der Tragkonstruktion sind es 1.350 Kubikmeter. Für die notwendige Statik sorgt stabilisierender Estrich.
Aus 22 Metern Höhe schweift der Blick über die ganze Tübinger Innenstadt und in die Umgebung. Beim Richtfest spricht Zimmerer Daniel Schaible hoch oben auf der sogenannten „Skybar“ den Richtspruch, trinkt einen Schluck und zerschlägt das Glas nach alter Tradition mit einem beherzten Wurf auf die Holzkonstruktion.
Durchdachte Architektur und Raum-Lösungen erfüllen höchste Ansprüche
Die Holzdecken und –wände sowie ein begrüntes Treppenhaus werden in der „Westspitze“ für eine angenehme Arbeits- und Raumatmosphäre sorgen. Eine kontrollierte mechanische Be- und Entlüftung mit hocheffizienter Wärmerückgewinnung garantiert ständig gute Luftqualität, vor allem in der kälteren Jahreszeit. Bei Bedarf können die hellen Arbeitsräume zusätzlich tageslichtähnlich ausgeleuchtet werden. Glasfaserkabel schaffen eine Datenautobahn ins Internet. Auf zwei Ebenen stehen 78 Stellplätze in einer Tiefgarage zur Verfügung. Auch Ladestationen für Elektroautos und E-Bikes sind vorgesehen. „Das Haus setzt in allen Belangen Maßstäbe“, sagt Andreas Stahl, Geschäftsführer des zuständigen Projektentwicklungs- und Planungsbüros pro.b GmbH und Co.KG mit Sitz in Tübingen und Berlin.
Für das Bauwerk wurde eigens die Westspitze Gewerbebau GmbH und Co.KG gegründet. Daran hält die UmweltProjekt AG 49 Prozent. Sie ist eine 100-prozentige Tochter der UmweltBank. Die restlichen Anteile verteilen sich auf private Investoren, unter anderem die drei Geschäftsführer von pro.b: Andreas Stahl, Donat Kühne und Andreas Mollenkopf. Etwa 16,3 Millionen Euro wird der Bau am Ende gekostet haben.
Die „Westspitze“ kommt schon heute gut bei den Mietern an
Der Gewerbebau „Westspitze“ ist nicht die einzige Kooperation der UmweltProjekt AG mit pro.b., die Zukunftsvisionen in die Realität übersetzt. Zwei Wohnhöfe auf dem neuen Stadtquartier am „Alten Güterbahnhof“, an dessen prominentester Stelle die „Westspitze“ zu finden ist, haben die beiden Partner bereits realisiert. Auch dieses Bauprojekt erfüllt nicht nur die sozialen, sondern vor allem die ökologischen Ansprüche der UmweltProjekt AG.
Im Fall der „Westspitze“ bedeutet dieser Anspruch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal: Es wird bundesweit das erste Gebäude in dieser Größenordnung sein, das alle nötigen Vorschriften und Auflagen erfüllt, um es komplett mit einer Photovoltaik-Anlage verkleiden zu dürfen. Mit der daraus gewonnenen Solarenergie wird der Strombedarf der „Westspitze“ weitgehend gedeckt werden.
Die Außenwände des Holzhochhauses stehen bereits. Die Fenster sind eingesetzt und lassen viel Licht ins Innere. Sie schlucken außerdem den Schall. Innen sind die Wände noch unverputzt und grau, Kabel hängen von hohen Decken – doch der Innenausbau steht unmittelbar bevor.
Auf rund 5.000 Quadratmetern Nutzfläche verteilen sich hier bald unterschiedlich große Räumlichkeiten. Sie sind individuell auf die Bedürfnisse der künftigen Mieter zugeschnitten. Im Erdgeschoss sind Läden und Cafés geplant. Das Konzept scheint anzukommen: Schon heute sind fast alle Einheiten an 14 Mieter vergeben.
Holzbau ist nachhaltig, vielseitig und vor allem eines: beständig
Zum Richtfest bringen Blumen und Tischdecken Farbe in den ansonsten noch schmucklosen Raum in der „Westspitze“. Handwerker und Planer, die Bauherren und Investoren stoßen gemeinsam mit Bier und Wein auf das Erreichte und ein weiterhin gutes Gelingen an. Sie alle haben ein Ziel vor Augen: Im späten Frühjahr 2020 soll die „Westspitze“ fertig sein. Alle bedienen sich am Bio-Buffet. Live-Musik unterhält die rund 400 Gäste.
„Wir wollen die Möglichkeiten ökologischen Bauens für jedermann sichtbar machen“, erklärt Beate Klemm, Vorstandsvorsitzende der UmweltProjekt AG, die Beweggründe für das Engagement. „Holzbau ist gebauter Klimaschutz“, lobt auch der renommierte Professor Ludger Dederich von der Hochschule für Forstwirtschaft zu Rottenburg in seinem Vortrag beim Richtfest. Außerdem stärke es die Wirtschaft insbesondere im ländlichen Raum. Dem Holzbau gehört in seinen Augen die Zukunft. Er sei eine passende Antwort auf die globalen Herausforderungen. Außerdem sei der Rohstofflieferant Wald nachhaltig verfügbar: „Er verändert sich, wird aber nicht sterben.“
Auch Oberbürgermeister Boris Palmer kann Holzhäusern nur Gutes abgewinnen. Sie seien oft viel langlebiger und robuster als herkömmliche Neubauten mit Stahlbeton und Eisenträgern. „Das Tübinger Rathaus aus Fachwerk steht seit 1435.“ An der „Westspitze“ werde alte Handwerkstradition mit modernen Mitteln fortgeführt. „Das Bauvorhaben zeigt, wie es künftig gehen kann“, ist er überzeugt. Für Palmer ist das ambitionierte Bauvorhaben ein Symbol und richtunggebendes Beispiel der ökologischen und ökonomischen Zukunft der Stadt. Es gilt daher wohl zu Recht als Leuchtturmprojekt weit über Tübingens Stadtgrenzen hinaus.
Weitere Informationen zur Finanzierung nachhaltiger Bauvorhaben:
Horst Rinner: Leuchtturmprojekt, schön und gut; aber der Bauplatz! Ein stillgelegter Güterbahnhof. Jede Stilllegung eines Güterbahnhofs, gegebenenfals verbunden mit dem Stilllegen von Anschlußgleisen für Betriebe, hatte unmittelbar die Verlegung von Gütertransport auf die Straße zur Folge. Angeblich wollen wir das doch nicht. Aber die unfähige Regierung in Berlin läßt die Deutsche Bahn gewähren. Ich empfehle die Lekture des Buches von Arno Luik „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“. Mein Fazit nach Lektüre des Buches: Das Leuchtturmprojekt hat ein „Geschmäckle“. Trotzdem werde ich der Umeltbank treu bleiben.
Lieber Herr Rinner,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Grundsätzlich geben wir Ihnen recht, dass eine Verlegung von Gütertransport auf die Straße zu vermeiden ist.
Der Güterbahnhof in Tübingen wurde allerdings bereits 1989 von der Deutschen Bahn stillgelegt, 1991 wurden die Gleise zum letzten Mal genutzt. Seitdem lag das große, innerstädtische Gelände brach, obwohl in der Universitätsstadt ein großer Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Büroflächen besteht.
2014 hat die Stadtverwaltung zusammen mit der Bahntochter Aurelis einen städtebaulichen Vertrag für die zukünftige Entwicklung des Geländes abgeschlossen. Auf der Brachfläche entstehen nun rund 570 neue Wohnungen. Davon baut die UmweltBank-Tochter UmweltProjekt AG 156 Wohnungen, davon mehr als 50 % Sozialwohnungen. Für die Westspitze war schon zu Beginn der städtebaulichen Planung ein Bürostandort vorgesehen.
Positiv zur erwähnen ist aus unserer Sicht auch, dass durch die Nutzung dieses Geländes keine neuen Flächen versiegelt werden.
Guten Tag Herr Rinner.
Hier in Duisburg haben wir auch einen vor Jahrzehnten stillgelegten Güterbahnhof. Zur Wiederbelebung wurde schon sehr viel heiße Luft bewegt. Passiert ist dort allerdings bis heute nichts, außer der unglücklichen Loveparade. Da kann man dem OB Palmer nur Mut bescheinigen und dem unsrigen OB etwas mehr davon wünschen. So ein Leuchturmprojekt ist aus meinem Verständnis heraus zukunftsweisend und hätte bei mir kein „Geschmäckle“, son-dern einen leckeren Rotwein-Abgang. Vielleicht kann sich die Umweltbank auch hier in Duisburg einbringen und ein Gespräch zwischen OB Palmer und unserem OB einfädeln, bevor irgendein Politiker hier noch einen Regionalflughafen zu planen beginnt.
S.g.D.H.,
Super Projekt leider fehlt eine entscheidende Information. Nämlich die Miete pro Quadratmeter. Ein Projekt kann nicht uneingeschränkt zukunftsweisend sein, wenn die Miete zu teuer wird, also ist diese Angabe notwendig, um die Sache zu beurteilen
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Berkemeyer
Hallo Herr Berkemeyer,
die Miete für die Gewerbeeinheiten in der Westspitze variiert nach Größe und Lage der Gewerbeeinheiten im Gebäude und liegt im Durchschnitt bei 13 Euro/qm netto kalt zzgl. MwSt.
Sehr gut finde ich, dass es eine Tiefgarage gibt und nicht wertvoller Boden für Parkplätze vergeudet wird, was ja leider fast immer noch so ist. Naturmaterialien sollten viel stärker genutzt werden. Holz ist ja zugleich CO2-Speicher. Mich interessiert, wie viele Etagen das Gebäude hat. Die Lösung muss „in die Höhe bauen“ sein, weil sonst zu viel Fläche verbraucht wird (siehe zudem Parkplätze). Beim Wald gibt es sicher ebenfalls viel zu diskutieren. Ohne gezielten Holzanbau wird man das benötigte Bauholz in der erforderlichen Qualität (Stammdurchmesser, Geradheit, Astfreiheit) nicht zur Verfügung haben. Das geht nicht ohne gezielten Holzanbau. Die Lösung kann ja nicht Import des Holzes aus anderen Regionen sein – etwa Sibirien? Reden Sie mal mit den Förstern vor Ort. Dann kommt noch der ganze Fördermitteldschungel hinzu. Es gibt also viel Diskussionsbedarf.
Hallo Herr Bäsler,
vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre kritischen Nachfragen.
Für das Projekt wurde heimische Fichte verarbeitet, welches aus dem Schwarzwald und Oberschwaben kommt. Das hierfür beauftragte Holzwerk ist PEFC zertifiziert. PEFC ist ein transparentes und unabhängiges System zur Sicherstellung einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung und damit ein weltweiter „Wald-TÜV“.
Ihr Beitrag zu der „Westspitze“ ist sehr interessant. Gut, dass wirklich auf die Nachhaltigkeit geachtet wurde und mit Holz gebaut wurde. Ich denke, dass man solche Gebäude in Zukunft immer mehr sehen wird.